Wir hatten die Möglichkeit die Diyarbakirs Co-Bürgermeisterin Gültan Kışanak und Firat Anli zu treffen und sie zu den aktuellen Ereignisse in der Türkei zu befragen:
Amed (türkisch Diyarbakır) wurde im Winter Schauplatz heftiger, kriegerischer Auseinandersetzungen. Ende 2015 wurden in allen Teilen des historischen Stadtteils „Sur“ Ausgangssperren ausgerufen, welche länger als 100 Tage in Kraft blieben. Dazu begann das türkische Militär den Stadtteil mit Artillerie, Panzern und Spezialeinheiten anzugreifen.
Kräftiger Widerstand und entschlossene Selbstverteidigungsstrukturen erschwerten dem Militär das Eindringen ins Quartier. Häuserkämpfe und Bombardements hielten monatelang an. Scharfschützen schossen auf alles was sich bewegte, egal ob Kinder, Helfer*innen oder verletzte Zivilisten. Viele der über 50’000 Einwohner*innen des Stadtteils mussten das umkämpfte Gebiet verlassen. Nur dank der grossen Solidarität der restlichen Stadtbevölkerung konnten die vielen tausend Flüchtlinge im nahen Umkreis von Sur untergebracht werden.
Mitte März 2016 wurde die Ausgangssperre in einigen Viertel Surs gelockert. Den rückkehrenden Einwohner*innen wurde von Seiten der kurdischen Bewegung und der Stadtverwaltung geholfen, so wurden Häuser und Infrastruktur wieder repariert. Zum heutigen Zeitpunkt konnten rund 90% der Bevölkerung wieder in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren. Jedoch wurden in fünf Distrikten die Ausgangssperren aufrecht erhalten. Sie sind sind bis Heute nicht zugänglich und ihren ehemaligen Bewohner*innen bleibt keine Hoffnung auf eine Rückkehr. Denn dort wurden 2’000 Häuser komplett zerstört, zudem wurden historische Kulturgüter wie Kirchen und Moscheen im Zuge der neuen Raumplanung (Breitere Strassen, neue Polizeiposten..) abgerissen. Das ganze Viertel wurde komplett zerstört. Rund 23’000 Menschen – ehemalige Bewohner*innen und Gewerbetreibende – sind davon betroffen. 6’400 Familien wurden so Obdachlos. Ihnen bietet der Staat lächerlich kleine Entschädigungen an. Die „Entschädigungen“ werden von den meisten Vertriebenen jedoch nicht akzeptiert. Der Staat hat den Plan alle Bewohner*innen des Stadtteils zu enteignen und Sur zu verstaatlichen. So dass grosse Baukonzerne neu bauen können und private Investoren die Liegenschaften kaufen können. Es wird versucht gegen die Enteignungen und gegen die Zerstörung der Häuser juristisch vorzugehen, dazu wurden bereits über 1500 Klagen eingereicht. Im ganzen kurdischen Gebiet der Türkei leben zurzeit 400’000 Menschen, denen ihre Unterkunft vom türkischen Staat zerstört wurden und die kein Zuhause mehr haben.
Der Co-Bürgermeisterin war es wichtig, trotz der grossen Zerstörung des Stadtteils Sur darauf aufmerksam zu machen, dass es kleinere Städte wie z.B. Şırnak noch viel härter traf und trifft. Şırnak (liegt im strategisch wichtigen Dreiländereck Türkei/Syrien/Irak) wird nach wie vor militärisch Belagert und die Auseinandersetzungen dauern an.
Angriff auf Presse Gülten und Firat kamen auch auf die seit langem schlecht dastehende Pressefreiheit in der Türkei zu sprechen. Die laufenden Angriffe auf die Journalist*innen und Medienstationen sind nicht besonders neu. Bereits in den 90er Jahren kam es vermehrt zu Razzien, Festnahmen und Schliessungen kurdischer und oppositioneller Medien. Jedoch hat die Intensität des Angriffes massiv zugenommen. So wurden bei früheren Aktionen Pressematerial wie Kameras, Computer, Tonaufnahmegeräte usw. nicht beschlagnahmt. Bei den aktuellen Aktionen, die sich gegen jegliche oppositionelle Presse stellen, sieht dies anders aus. Neben den Festnahmen wird jetzt auch gleich das komplette Material beschlagnahmt und die Medienhäuser geschlossen. Alle oppositionellen Medien sind davon betroffen, zudem werden sogar Fernsehsender mit ausschließlich Musik- oder Kinderprogramm geschlossen. Diese ganzen Aktionen werden dank dem Ausnahmezustand, welcher seit dem Putschversuch in Kraft ist ohne Gerichtsbeschluss und direkt vom Staat durchgeführt. Die BürgermeisterIn stellten die Frage in den Raum, was nach dem Kahlschlag der oppositionellen Presse folgen wird. Die Antwort darauf ist sehr wahrscheinlich wenig erfreulich…
Entmachtung der Stadtverwaltungen Auch auf die aktuellen Entmachtungen der kurdischen Stadtverwaltungen wurde eingegangen. In den letzten Wochen wurden 28 demokratisch gewählte Stadtverwaltungen (auch die des Stadtteils Sur) direkt vom türkischen Staat entmachtet. 21 BürgermeisterInnen befinden sich in Untersuchungshaft. Rund drei Millionen Menschen leben in diesen Gebieten, die nun unter Zwangsverwaltung gestellt wurden. Die Angriffe auf die Stadtverwaltungen sind Angriffe gegen die ganze kurdische Bewegung, gegen ihre Selbstverwaltung und insbesondere auch gegen die Frauen. Denn ihre Organisierung wird von den eingesetzten, türkischen Treuhänder als erstes ins Visier genommen. Widerstand gegen die Entmachtungen kommt unter Anderem von den Partnerstädten. Beispielsweise die Partnerstadt von Sur, Çanakkale anerkannte den neu eingesetzten türkischen Treuhänder Surs nicht an und gab zu verlauten, sie hätten eine Partnerschaft mit der Bevölkerung von Sur, nicht mit dem Zwangsverwalter.
Gülten Kisanak erwähnte eine Anekdote von einem Treffen mit dem abgesetzten türkischen Ministerpräsidenten Davutoğlu. Als Davutoğlu Diyarbakır besuchte, wurde er gefragt, ob er die schlimmen Zustände, welche der Krieg geschaffen hat nicht sehe? Er antwortete: „Ich sehe sie schon, aber wer erklärt das dem Führer?“ Mit dem „Führer“ war Erdogan gemeint, und Davutoğlu ist alles andere als ein Freund der kurdischen Bewegung…
Zum Abschluss wurde deutlich gesagt, dass trotz der brutalen staatlichen Angriffe der Widerstand ungebrochen und stark weitergeht. Die kurdische Bewegung wird nicht von der Angst gelähmt, sondern vom Widerstand angetrieben!
Serkeftin!