Hintergrundtexte

Praxis einer linken Utopie
Demokratische Autonomie in Westkurdistan/Nordsyrien

Im Zuge der im Westen als «arabischer Frühling» bezeichneten Aufstände begann sich Anfang 2011 auch in Syrien der Widerstand gegen das Assad-Regime zu formieren. Das Regime antwortete mit harter Repression; im Gegenzug fand die zunehmende Bewaffnung der verschiedenen oppositionellen Gruppierungen statt. Trotz Bürger_innenkrieg, ethnischer Spaltung und religiöser Konflikte ist es der Bevölkerung in Rojava (Westkurdistan/Nordsyrien) aber gelungen, ein alternatives Gesellschaftsmodell zu entwickeln – die demokratische Autonomie.

Die Revolution von Rojava
In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 wurden, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt, in Kobanî einige staatliche Gebäude besetzt. Schnell setzte sich die Bevölkerung gegen die Militärkräfte des Assad-Regimes durch und die Soldaten zogen sich entweder aus der Stadt zurück oder legten ihre Waffen nieder. In den nächsten Tagen weiteten sich die Aufstände auf andere Städte Westkurdistans/Nordsyriens aus. In der Folge gelang die radikale Reorganisation der gesellschaftlichen Strukturen hin zu einer basisdemokratischen Selbstverwaltung.
Mit der Errichtung konföderativer Rätestrukturen wird die Bevölkerung Teil der Verwaltung. Räte und Kooperativen wurden gegründet, um in den Kommunen Bereiche wie Alltagsgestaltung, Bildung, Gesundheit, Rechtsprechung oder Handel selber zu organisieren. Anfang 2014 wurde sodann der sogenannte »Gesellschaftsvertrag für Rojava« gemeinsam verabschiedet, der in 93 Artikeln die inhaltlichen und organisatorischen Grundpfeiler des Gesellschaftsmodells definiert. Ziel ist es, in Rojava den Grundstein für eine demokratische, gerechte, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft zu legen. Um gesellschaftlichen Ungleichheiten strukturell entgegenwirken zu können, entsenden beispielsweise Jugendverbände, ethnische oder religiöse Minderheiten sowie Frauenorganisationen eigene Vertreter_innen in die einzelnen Räte – vom Stadtteilrat bis hin zum Volksrat von Westkurdistan/Nordsyrien.

Frauen kämpfen für Frauenrechte

Die Frauenbewegung hat in den letzten Jahren an Kraft und Bedeutung gewonnen. So erkämpften die Frauenorganisationen spezifische Artikel im genannten Gesellschaftsvertrag und setzten etwa die Verankerung des Rechts der Frau auf Selbstverteidigung und des Rechts, sich gegen jegliche Geschlechterdiskriminierung aktiv zur Wehr zu setzen, durch. In diesem Sinne müssen die Rätestrukturen, um dem kulturell stark verankerten Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen organisatorisch entgegenzuwirken, jeweils mindestens zu 40% aus weiblichen Vertreterinnen bestehen. Auch werden alle Ämter immer von einer Frau und einem Mann zusammen besetzt. Auch in den Volksverteidigungskräften, also dem militärischen Arm, sind rund die Hälfte der Kämpfer_innen in den Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) organisiert, die momentan vor allem damit beschäftigt sind, die Angriffe des IS abzuwehren.

Die Perspektive
Bemerkenswert an der Umsetzung des Konzepts der Demokratischen Autonomie in Rojava ist, dass diese nicht auf religiöser oder ethnischer Einheit basiert. In der Präambel des Gesellschaftsvertrages wird festgehalten, gegen die Ungleichbehandlung der Religionen, Sprachen, des Glaubens sowie der Geschlechter, für Gerechtigkeit und Freiheit zu kämpfen. Alle sollen für das Erlangen eines pluralistischen, eigenständigen und gemeinsamen Lebens mit allen Teilen einer demokratischen Gesellschaft und ihrem politisch-moralischen Selbstverständnis einstehen. Rojava ist ein Versuch der Umsetzung eines radikalen Konzepts der Basisorganisation jenseits von zentraler Kontrolle, Autorität und Ausgrenzung. Als Ganzes liefert Rojava ein starkes Beispiel für alternative, gesellschaftliche Organisationsformen, das über den mittleren Osten hinaus in der emanzipatorischen Linken Beachtung finden muss.

KB & AM, erschienen im: megafon, N°390, Dezember 2014