Erlebnisberichte

Kurze subjektive Einschätzung zur Lage in Mossul und der Situation der Geflüchteten. (06.12.2016)

Vor wenigen Tagen wurde die fünfte und letzte Brücke in Mossul über den Tigris beschädigt. Die anderen sind bereits zerstört. Damit ist es unglaublich schwierig, von Osten her die gesamte Stadt einzunehmen. Ohnehin ist der Westteil der Stadt wesentlich bedeutender in der gesamten Schlacht und entsprechend schwieriger einzunehmen. Die irakische Armee müsste also von Westen kommen. Tatsächlich hat sie Mossul schon eher weiträumig umzingelt und ist bis zum Westen der Stadt Tal Afar vorgedrungen. Hier tritt allerdings ein Problem auf: Die Türkei hat angekündigt, Angriffe auf Tal Afar weder von schiitischen Milizen noch von PKK nahen Kräften (YBŞ/YJŞ) zu dulden und intervenieren zu wollen. Da aber am Verhandlungstisch eine Einnahme Tal Afars durch die Peşmerga nicht vorgesehen wurde, ist ohnehin die Sache klar, dass Erdogan eine Legitimation sucht, um doch noch eingreifen zu können. Da nun also die irakische Armee fast zwangsläufig von Westen her kommen muss, wäre eine Einnahme Tal Afars schon bald denkbar und eventuell noch vor der Einnahme Mossuls möglich. Aber das ist im Moment eher schwierig zu analysieren.

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Spannender ist eher die Frage, wie die Position der PKK in diesem Kampf ist. Ein Kommandant meinte, die PKK helfe immer im Kampf gegen die Unmenschlichkeit. Sie warten aber noch ab. Vorbereitungen für eine Operation auf Mossul von Seiten der PKK und der YPG/J laufen allerdings schon an. Reine Selbstlosigkeit ist allerdings nicht der einzige Grund hierfür. Die Mossul Operation ist auch für die PKK und die YPG/J mit grossen strategischen Interessen verbunden. Şengal ist mittlerweile kontrolliert von YBŞ/YJŞ Einheiten. Die Routen dort hin führen meist über Rojava. Die nordirakische Regionalregierung hat die Wege geschlossen und steht den PKK nahen ezidischen Milizen feindlich gegenüber. Könnten sich die demokratisch-konföderalistischen Kräfte von Şengal nach Mossul vorkämpfen, könnten sie ihr Einflussgebiet entscheidend vergrössern. Sollten sie durch die Schlacht um Mossul auch in dieser Region an Einfluss gewinnen, wäre der Weg nicht mehr weit, um eine direkte Verbindung in das von der PUK kontrollierte Sulaimaniyya zu haben. Die dortige Regierung ist der PKK wohlgesinnt. Folglich gäbe es einen Weg von Rojava über Şengal bis zu Sulaimaniyya und von dort aus bestehen Wege nach Kandil. So könnten die Embargos gegen Rojava umgangen werden und es gäbe den dringend benötigten Korridor. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass die Irakische Zentralregierung kein Interesse an einem Rojava Embargo hätte. Somit könnten bessere Bedingungen für die Situation in Rojava geschaffen werden und über ein Grenzübergang Rojava – Irak Handel betrieben werden.
Damit wäre auch wieder etwas klarer, wieso Erdogan solche Angst davor hat, wenn eine Kraft Tal Afar einnimmt, welche nicht entschlossen gegen den demokratischen Konföderalismus kämpft.

Die Schlacht um Mossul dauert nun schon mehrere Wochen. Die Truppen der irakischen Regierung und ihre Verbündeten kreisen die irakische IS-Hochburg Mossul langsam ein. Ein Sieg des islamischen Staates (Daiş) ist in dieser Stadt unwahrscheinlich.
Doch je länger die Schlacht tobt, desto mehr Zivilisten sind von den Kämpfen betroffen. Tausende Menschen sind vor den Kämpfen auf der Flucht. Anderen gelingt dank den Kämpfen die Flucht aus der Schreckensherrschaft der Daiş. Wie sich die befürchteten Spannungen zwischen den schiitischen Milizen, die an der Seite der irakischen Regierung kämpfen, und der häufig sunnitischen Bevölkerung von Mossul äussern ist noch schwer einzuschätzen. Bisher sind rund 9’000 Menschen über die Irakisch-Syrische Grenze nach Rojava geflohen.
Die Flucht ist allerdings alles andere als einfach. Von den Daiş erwischt zu werden, kommt dem sicheren Tode gleich. Auch Minen und andere Sprengfallen lassen die Flucht zu einem potenziell tödlichen Unterfangen werden.
Andere Flüchten aus dem IS-Gebiet in Syrien nach Norden nach Rojava.
Jene, welche die Flucht geschafft haben, werden vorerst in einem Camp nahe der Grenze einquartiert. Die Verantwortlichen des Camps, die Verwaltung des Kantons Cizire, trifft die notwendigen Vorkehrungen, um bis zu 50’000 Menschen in diesem Zeltlager aufzunehmen und zu verpflegen. Die autonome Verwaltung Rojavas übernimmt neben der Organisation auch die Sicherheit. Der Checkpoint am Eingang wird von bewaffneten Asayiş Kräften der PYD kontrolliert und gemeinsam mit der YPG/J werden die Menschen interviewt, um allfällige verdeckte IS-Terroristen, die sich unter die Flüchtlinge mischen, zu entlarven.
Die Infrastruktur wird, wie fast überall, durch das Flüchtlingshilfswerk der vereinten Nationen UNHCR zur Verfügung gestellt. Sie übernehmen gemeinsam mit der kantonalen Verwaltung von Cizire die Koordination und Organisation des Camps. Die Nahrungsmittelversorgung übernimmt das World Food Programm der UN. Die medizinische Versorgung wird durch die kurdische rote Mondsichel „Heyva Sor a Kurd“ sichergestellt. Die Organisation betreut sämtliche zivile gesundheitlichen Einrichtungen wie Spitäler oder Ambulanzen in Rojava. Die Organisation ist allerdings nicht Teil des roten Kreuzes und wird von der UN nicht als NGO anerkannt. So können Medikamente und Behandlungsinstrumente nur schwer das Embargo überwinden. Sie müssen auf die Hilfe von akkreditierten und international anerkannten NGOs zurückgreifen. Im Camp betreibt Heyva Sor ein kleines Gesundheitszentrum. Auf jeweils ca. 8m2 wurden eine Kinderklinik, eine Klinik für Betagte und eine für Gynäkologie eingerichtet. Pro Tag werden  auf auf engstem Raum rund 100 Menschen untersucht und verarztet. Ausserdem werden durch ein kleines Fenster in einem Container Medikamente nach vorheriger ärztlicher Verschreibung kostenlos abgegeben. Ein grösseres Zelt mit Krankenbetten befindet sich im Aufbau. Für 9’000 Menschen ist die medizinische Versorgung äusserst prekär. Die Grundversorgung wird allerdings sichergestellt. Medizinische Notfälle müssen im Krankenhaus in Al-Hasaka behandelt werden.

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Eine minimale Grundversorgung wird also sichergestellt. Was geschieht jedoch in Zukunft mit den Geflüchteten? Für die meisten syrischen Binnenflüchtlingen ist diese Frage relativ einfach zu beantworten. Sie können sich in Syrien so frei, wie es in einem Kriegsgebiet möglich ist, bewegen. Nur wenige von ihnen befinden sich im Camp. Wer Bekannte in Rojava hat, welche versichern können, dass die betreffende Person kein*E Anhänger*In von Daîş ist, darf sich in Rojava niederlassen. Andere wählen die von dem UNHCR koordinierte Option, über Al-Hasaka und Qamişlo nach Damaskus zu fliegen.
Die Flüchtlinge aus dem Irak müssen vorerst im Camp bleiben, bis abgeklärt ist, ob es sich um IS-Kämpfer handelt. Die meisten wollen, sobald Mossul vom IS befreit wurde, in ihre alte Heimat zurück kehren. Eine Flucht nach Europa können sich ohnehin nur wenige leisten. Zudem erschwert der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei die Flucht.

Beziehungsweise lässt er die Chancen verschwindend klein werden. Zudem ist der Übertritt schon nur in die Türkei fast unmöglich geworden. Mittlerweile schiessen Soldaten auf alle, die die Grenze zur Türkei überschreiten wollen. In der Nacht auf Montag wurde gerade eine achtköpfige Familie beschossen, als sie die türkische Grenze zu überqueren versuchten. Mehrere erlagen ihren Verletzungen. Heyva Sor benötigte den Schutz der YPG/J, um die Opfer zu bergen.
Die Lebensbedingungen für Geflüchtete in der Türkei werden von vielen Geflüchteten als schrecklich beschrieben.
Im westen Rojavas ist Situation für Geflüchtete also einigermassen sicher und eine minimale Grundversorgung kann sichergestellt werden.
Die grossen Probleme werden wohl erst mit der Zeit aufkommen. Sollte das schiitische irakische Regime die sunnitische Bevölkerung in Mossul unterdrücken, könnte eine Rückkehr für viele der sunnitischen Flüchtlinge keine Option sein. Es müssen also früh genug Optionen für die Aufnahme von zehntausenden Geflüchteten erschaffen werden, um zu verhindern, dass aus dem Camp eine neue Stadt entsteht, mit all den Problemen, die solche permanente Lager in Syrien, Libanon und dem Irak mit sich bringen.
Kurzfristig scheint die Lage also im Griff zu sein. Langfristige Lösungen, welche nicht die Rückkehr betreffen, sollten allerdings verstärkt in den Fokus gerückt werden.

(Teilnehmer der Delegationsreise Herbst 2016)