Es waren Symbolträchtige Bilder: Eine riesige kurdische Flagge wird von feiernden Peşmerga Kämpfern auf den Getreidesilos der nordirakischen Stadt Şengal entrollt. Die Stadt, die durch das Massaker des IS an der ezidischen Bevölkerung 2014 traurige Berühmtheit erlangte, war befreit. Das Bild der Fahne wurde weltweit verbreitet – auch ein Propagandaerfolg. Dabei schien fast vergessen zu gehen, was ohnehin nur dank wenigen guten Investigativjournalist*Innen überhaupt eine minimale Aufmerksamkeit im Westen erlangte: Es war nicht die Fahne der Befreier*Innen, die am Silo prangte. Vielmehr noch trug die Regierung des Nordirakes eine Mitschuld am blutigen Massaker an den Eziden. Die Peşmerga wurden aus der Region abgezogen, als der IS vor den Toren stand. Zudem wurde die Bevölkerung entwaffnet, weil die Peşmerga die einzige bewaffnete Kraft sein wollte. Die Menschen waren den Dschihadisten hilflos ausgeliefert.
Schnell kam allerdings die PKK und die YPG und kämpfte einen Fluchtkorridor frei. Viele Menschen konnten so nach Rojava evakuiert werden.
Die Rückeroberung war dann auch in erster Linie die Leistung der PKK (HPG und YJA Star) und der YPG/-J, wie übereinstimmend durch die ARD Sendung Monitor [Link] und die Bevölkerung vor Ort berichten. Die unter anderem von Deutschland unterstützten Peşmergakräfte beschränkten sich auf die Frontsicherung und rückten jeweils nach. Deshalb besteht seither ein Korridor zwischen Rojava und Şengal. Da allerdings seit der Befreiung die kurdische Regionalregierung des Nordirakes, die KDP, keinen Finger gekrümmt hat, um eine medizinische Grundversorgung wieder aufzubauen, wird jegliche medizinische Hilfe durch die PKK und Heyva Sor a Kurd aufgebaut, obwohl es auch schon in Rojava an vielem fehlt. Im Moment leiden viele Menschen an einer parasitären Mücke, welche ihre Eier unter die menschliche Haut pflanzen. Um die Menschen zu behandeln, begleiteten wir zwei Ärztinnen von Heyva Sor in die Region, die die nötigen Medikamente lieferten und einigen lokalen Kämpfern und Parteikadern die Injektion des Serums lehrten. Ein Augenschein vor Ort:
Es ist früh am Morgen, als wir uns in einem Ambulanzfahrzeug auf den Weg machen. Auf dem Weg schliesst sich ein weiteres Fahrzeug an. Es sind PKK Mitglieder, welche sich vom Guerillakämpfer zum Pflegefachmann haben umschulen lassen. Nach einer Weile verlassen wir die asphaltierten Strassen. Der Weg ist holprig. Gleichzeitig zieht ein Sandsturm auf. Von der Landschaft ist kaum was zu sehen. Nach einer Weile taucht ein Checkpoint aus der Sandwolke auf. Zu sehen sind grün-rote Fahnen mit der gelben Aufschrift „YBŞ“ (Yekîneyên Berxwedana Şingal =Widerstandseinheiten von Şengal). Vermutlich sind wir nun in der Şengalregion. Mittlerweile ist der Sandsturm einem stürmischen Regen gewichen. Als wir endlich wieder eine asphaltierte Strasse unter den Rädern haben, nähern wir uns einem ersten kleinen Dorf. An jedem Laternenpfahl hängt ein Bild eines in Şengal gefallenen Kämpfers. Die meisten waren von der PKK. Zwischendurch gibt es aber dennoch Checkpoints von KDP-Peşmergas. Sie winken uns aber schnell durch. Kurz bevor die Strasse in das Gebirge führt, erinnert ein grosses Denkmal mit dutzenden Fotos an gefallene Genoss*innen. Wenige hundert Meter weiter, stehen erste Zelte und improvisierte Hütten. Je weiter wir in das Gebirge fahren, desto mehr werden es. Wer vom IS flüchten konnte, die Region aber nicht verlassen hat, lebt meistens in solchen improvisierten Behausungen.
Tags darauf, fahren wir weiter ins Gebirge nach Sinjar. Am Rande eines grösseren Tals, in welchem die Strasse gesäumt mit solchen Zelten ist, steht die Stadtverwaltung, beziehungsweise eine Verwaltung für die Direkthilfe. Denn Räte konnten noch nicht so viele gebildet werden, weshalb die Verwaltung in erster Linie hilft, das Überleben zu sichern. Es wurden Wasserquellen angegraben. Es gibt eine Wasserverteilung mit Tanklastern, es werden Grundnahrungsmittel abgegeben und ein öffentlicher Bus in die Stadt wurde organisiert. Leider kam der Input nicht von der Bevölkerung oder von Räten, sondern von der PKK. Wie uns der Co Vorsitzende der Institution erzählt, ist es ein schwieriger Prozess, die Menschen zu überzeugen, die eigene Umgebung mit zu gestalten. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen ist die Gesellschaft sehr religiös und konservativ geprägt. So ist das Hoffen auf göttliche Hilfe enorm gross, was zu einer gewissen Apathie führt. Ausserdem ist die Gesellschaft dermassen patriarchal, dass ein Frauenrat nur mit grosser Mühe aufgebaut werden konnte. Für Frauen, welche die Unterdrückung nicht mehr erfahren wollen, ist es oftmals am einfachsten, sich den Fraueneinheiten Şengals (YJŞ) anzuschliessen. Innerhalb der Zivilgesellschaft ist die Frauenbefreiung nur sehr langsam am voranschreiten.
Hinzu kommt, dass die ezidische Bevölkerung ein Kastensystem hat. Wer nicht in einer höheren Kaste aufgewachsen ist, war immer in einer Position, in welcher nicht mitbestimmt werden konnte.
Zum anderen leben die Menschen dort im Gedanken, bald in die Stadt zurückzukehren. Die Menschen haben aber noch zu grosse Angst davor. Die meisten wollen erst zurück, wenn Tal Afar befreit wurde. Nun verbringen die Menschen also schon den dritten Winter in Zelten. Sich ein kleines Häuschen zu bauen würde hohe Kosten bedeuten, welche unter Umständen nur für sehr kurze Zeit hilfreich wären.
Die PKK versuchte jeweils, beispielsweise durch den Bau eines Spitals, die Menschen dazu zu animieren, auch etwas zu machen. Passiert ist leider noch nicht viel. Wenn die PKK aber anbietet, sich zurückzuziehen, weil ja viele Menschen gar nicht das Interesse, demokratische Verwaltungen aufzubauen haben, beharren allerdings die meisten darauf, dass die PKK bleiben solle. Zum einen, weil sie deren Schutz wollen, zum anderen, weil für die meisten die KRG Regierung keine gute Alternative wäre. Auch die PKK Anhänger*innen, welche in diesem Gebiet helfen wollen, mussten einsehen, dass gesellschaftliche Prozesse sehr langsam und schwierig zu erreichen sind und einiges an Ausdauer benötigen. Wir verabschieden uns, von dem Herrn, welcher eigentlich nur zur PKK kam, um seine Tochter zu überzeugen, die Guerilla zu verlassen, dann aber selber kurzerhand in die Partei eintrat. Wir fahren durch die neblige Landschaft. Als sich der Nebel lichtet, sehen wir die Stadt in der Ferne. Am Rande der Stadt befindet sich ein Checkpoint der KDP, gefolgt von einem der YBŞ. Am Stadtrand haben einige Geschäfte geöffnet. Viele Häuser sind aber noch nicht aufgebaut. Je weiter wir in die Stadt fahren, desto mehr wird die Zerstörung sichtbar. Menschen gibt es kaum. Es ist wie in einer Geisterstadt. Die meisten Gebäude sind zerstört. Die Mauern, die noch stehen, sind übersät von Einschusslöchern. Verstreute Kleidung und Schulmaterial in den Ruinen zeugen davon, wie fluchtartig die Menschen die Stadt verließen. Immer wieder stehen ausgebrannte Autowracks am Strassenrand. Trotz dieser Menschenleere, ist die Stadt gesäumt von Fahnen. Einerseits jene der YBŞ und der PKK, andererseits solche der KRG und der KDP, wobei letztere ihre Fahnen nahezu überall hingepflanzt haben. Es gleicht einem Kampf um die Köpfe… um Köpfe, die gar nicht da sind.
Mitten in der Stadt wurde ein militärisches Spital YBŞ aufgebaut. Die Räume wurden bereits nach ihren Funktion aufgeteilt. Auch ein Raum zum Röntgen und ein Ultraschallraum wurden geplant. Nur die nötigen Geräte dafür fehlen. Nur simple Behandlungszimmer und ein Zimmer für Zahnmedizin konnten bisher eingerichtet werden. Schwere Verletzungen müssen in Rojava behandelt werden. Auch Zivilisten müssen für Behandlungen von grösseren Verletzungen nach Rojava. Die Wege in die KDP-Regionen sind entweder geschlossen oder die Behandlungen wäre zu teuer.
Ausserdem hat die KDP so gut wie nichts aufgebaut. Ihr Präsenz beschrenkt sich auf eine propagandistisch-politische. Sie wollen die Region keiner Selbstverwaltung überlassen. Wie uns erzählt wird, mussten die KDP-Peşmerga jedoch sogar von der PKK geschützt werden, um nicht von der Bevölkerung gelyncht zu werden.
Ausserdem würde jegliche internationale Hilfe als Errungenschaft der KDP verkauft. Überprüfen lässt sich dies nur schwer.
Und so fahren wir mit gemischten Gefühlen weiter durch die menschenleere Stadt, vorbei an Bildern des KRG-Präsidenten Barsani, vorbei an Bombenkratern, vorbei an den berühmten Getreidesilos und vorbei an dem Fussballstadion, welches einer Brache gleicht. Statt Vereinsflaggen weht hier die Fahne der PKK.
Bei unserer Rückkehr in das Tal ist der Nebel verschwunden. Nun sieht man das ganze Ausmass der Vertreibung. Tausende Zelte verteilen sich über das gesamte Tal. Wir fahren an zwei Kindern vorbei. Das kleinere zeigt das Victory-Zeichen.
(Text ist auf der Delegationsreise im Dezember 2016 entstanden)